Erinnerung braucht Langzeitarchivierung

Aus­schnitt aus einem Ent­wurf der Archivtektonik.

So wenig die in jüngs­ter Zeit ver­mehr­ten Bezug­nah­men auf die Pro­tes­te im Herbst 1989 und ins­be­son­de­re die gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­tio­nen im Jahr dar­auf über­ra­schen kön­nen, ist dabei doch kaum zu über­se­hen, wie sel­ten die­se Anru­fun­gen über den Modus des Schlag­wor­tes hin­aus­zu­ge­hen ver­mö­gen. Erin­ne­rung schafft – auch dies ist kaum mehr als ein Gemein­platz – Ver­gan­gen­heit nach ihrem Bil­de. Stellt sie ent­spre­chend not­wen­dig eine Moment­auf­nah­me dar, bleibt sie gleich­sam an das Veto der bekann­ten Quel­le gebun­den.1 Plau­si­bel kann über Ver­gan­ge­nes letzt­lich nur das­je­ni­ge geäu­ßert wer­den, das die­sem Ein­spruch stand­zu­hal­ten ver­mag. Obschon sich eine brei­te­re und in Tei­len prä­zi­se­re Dis­kus­si­on um 19892 kaum in der Bereit­stel­lung von Quel­len erschöpft, bedarf sie nicht zuletzt einer Sicht­bar­ma­chung und Siche­rung – als Anknüp­fungs­punkt neu­er, ver­än­der­ter Bli­cke einer­seits und Ein­spruch gegen zu ober­fläch­li­che und instru­men­ta­li­sie­ren­de Aneignungen.

Langzeitarchivierung als Stifterin

Archi­ve erschei­nen – häu­fig auch in ihrem Selbst­bild – mehr als Bewah­re­rin des Vor­han­den­den aber Ver­schwin­den­den denn als Stif­te­rin von Wan­del und Neue­rung.3 Und tat­säch­lich zeigt die Erin­ne­rungs­land­schaft zum Zusam­men­bruch der DDR und der staat­li­chen Ein­heit wie wenig es des ernst­haf­ten Quel­len­be­zu­ges bedarf, um geteil­te Geschich­te zu schaf­fen. Bereits in der Ver­schmel­zung von Pro­tes­therbst und Ein­heits­stre­ben, wie sie die jähr­li­chen Anspra­chen lan­ge Zeit domi­nier­te, mag dies nach­voll­zo­gen wer­den. Umge­kehrt deu­ten gera­de die viel­fäl­ti­gen Stim­men, die in den letz­ten Jah­ren mit Ver­ve sich Gehör zu ver­schaf­fen suchen, an, dass eine Reduk­ti­on der Erzäh­lun­gen auf weni­ge Quel­len – auf weni­ge Stim­men – fra­gil zurückbleibt.

Fre­quenz des Auf­tre­tens der Begrif­fe deut­sche Ein­heit und fried­li­che Revo­lu­ti­on in den Kor­po­ra des DWDS (illus­tra­ti­ve Auswertung).

Gleich­zei­tig zeigt die inzwi­schen erneut ver­san­den­de Dis­kus­si­on bei­spiels­wei­se um eine ver­meint­li­che ost­deut­sche Men­ta­li­tät4 wie auch eine angeb­li­che Kolo­nia­li­sie­rung von Iden­ti­tät und Erin­ne­rung,5 dass die Domi­nanz des infra­ge gestell­ten Nar­ra­tivs wesent­lich von der Sicht­bar­keit jener abhängt, die sich als nur unge­nü­gend prä­sen­tiert emp­fin­den.6 Deren Blick auf 1989/​1990 dürf­te kaum in den ver­gan­ge­nen zwei bis drei Jah­ren ent­stan­den sein.7 Doch erst der öffent­lich wahr­ge­nom­me­ne Auf­tritt von Autor*innen und Netz­wer­ken mün­de­ten in einer brei­te­ren gesell­schaft­li­chen Debat­te. Erin­ne­rung kann über die­se Stim­men nicht gänz­lich fol­gen­los hin­weg, solan­ge sie prä­sent – geäu­ßert und ver­füg­bar – sind. Das herbst89on​line​ar​chiv​.org begreift sich dabei als Platt­form, die eine dau­er­haf­te Siche­rung eines Teils die­ser Stim­men anstrebt.

Anmerkungen

1 Zum Pro­blem des wahr­heits­ori­en­tier­ten Quel­len­be­zugs : Jörn Rüsen : Zum Pro­blem der his­to­ri­schen Objek­ti­vi­tät. In : Geschich­te in Wis­sen­schaft und Unter­richt 30/​1980, Nr. 3, S. 188 – 198, hier S. 194 – 197, URL : http://​www​.joern​-rue​sen​.de/​5​.​0​3​5​_​Z​u​m​_​P​r​o​b​l​e​m​_​h​i​s​t​_​O​b​j​e​k​t​i​v​i​t​a​t​.​pdf.

2 Jüngst the­ma­ti­sier­te unter ande­rem Sab­row die Fra­ge, inwie­weit 1989 mitt­ler­wei­le man­nig­fal­ti­ge Anknüp­fungs­punk­te für unter­schied­lichs­te his­to­ri­sche Erzäh­lung bie­tet : Mar­tin Sab­row : 1989 als Erzäh­lung. In : Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te 69/​2019, Nr. 35 – 37, S. 25 – 33, URL : https://​www​.bpb​.de/​a​p​u​z​/​2​9​5​4​5​5​/​d​a​s​-​l​e​t​z​t​e​-​j​a​h​r​-​d​e​r​-​ddr.

3 Ent­spre­chend for­mu­liert das Gesetz über die Nut­zung und Siche­rung von Archiv­gut des Bun­des ähn­lich wie vie­le Archiv­ge­set­ze auf Län­der­ebe­ne zur Auf­ga­be der Ein­rich­tun­gen : Das Bun­des­ar­chiv hat die Auf­ga­be, das Archiv­gut des Bun­des auf Dau­er zu sichern, nutz­bar zu machen und wis­sen­schaft­lich zu ver­wer­ten. Wenn­gleich sich hier auch die Ver­wer­tung bzw. Aus­wer­tung am Ende des ers­ten Sat­zes fin­det, bezie­hen sich alle wei­te­ren Sät­ze des Para­gra­phen zur Auf­ga­be des Bun­des­ar­chivs allein auf den Erhalt. Bun­des­ar­chiv­ge­setz vom 10. März 2017. In : BGBl. I (2017), S. 410), URL : https://​www​.geset​ze​-im​-inter​net​.de/​b​a​r​c​h​g​_​2​0​1​7​/​B​A​r​c​h​G​.​pdf.

4 Der 2018 im Auf­bau-Ver­lag erschie­ne­ne Dia­log Wer wir sind bie­tet letzt­lich ein viel­sa­gen­des Bei­spiel für die Fall­stri­cke die­ser jüngst pro­mi­nen­ter wer­den­den Debat­te : So sehr sich Wolf­gang Eng­ler und Jana Hen­sel über wei­te Stre­cken ihrer Gesprä­che bemü­hen zu ergrün­den wor­in so etwas wie eine ost­deut­sche Iden­ti­tät bestehen könn­te, setz­te bereits der Klap­pen­text des Ver­lags eine sol­che vor­aus : Aber wer sind die Ost­deut­schen ? Und auch wenn die Dialogpartner*innen letzt­lich schlie­ßen, die­se ost­deut­sche Iden­ti­tät sei zu einem guten Teil der Behaup­tung geschul­det, es gäbe sie nicht, bleibt doch bereits vor­ab ein Wir behaup­tet, des­sen Exis­tenz zumin­dest zwei­fel­haft sein dürf­te. Vgl.: Wolf­gang Engler/​Jana Hen­sel : Wer wir sind. Die Erfah­rung, ost­deutsch zu sein. Ber­lin 2018, S. 283.

5 Wäh­rend sich bei­spiels­wei­se eine Dresd­ner Tagung im Som­mer 2019 Aspek­ten der Kolo­nia­li­sie­rung Ost­deutsch­lands wid­me­te und hier­bei nicht weni­ge Ambi­va­len­zen auf­ta­ten, reicht die­ser Debat­ten­strang letzt­lich bis in die frü­hen 1990er Jah­re zurück. Bereits 1993 hat­ten Düm­cke und Vil­mar auf eine zuneh­men­de Ver­brei­tung die­ses Blick­win­kels gehofft. Aller­dings muss­ten aus sie zuge­ste­hen, dass der ver­meint­li­che Aus­schluss aus dem wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Leben – hier­in bestün­de der Kern jener Kolo­nia­li­sie­rung – nur eine Sei­te des Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses zu fas­sen ver­mag. Nicht allein, dass demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­ons­räu­me sich nun­mehr ver­viel­fäl­tig­ten, die Ver­ei­ni­gung selbst bil­de­te eine Aneig­nung die­ser Par­ti­zi­pa­ti­ons­räu­me. Wolf­gang Dümcke/​Fritz Vil­mar : Was heißt hier Kolo­nia­li­sie­rung [1993]. In : Peter Imbusch/​Ralf Zoll (Hrsg.): Frie­dens und Kon­flikt­for­schung. Eine Ein­füh­rung mit Quel­len. Opla­den 1996, S. 257 – 266, hier S. 264. Zur Tagung 2019 : Tho­mas Stan­ge : Die Herr­schen­den in Deutsch-Nord­ost : Eine Kon­fe­renz dis­ku­tiert Aspek­te der Kolo­nia­li­sie­rung Ost­deutsch­lands. In : Ost|Journal vom 15. April 2019, URL : https://​www​.ost​-jour​nal​.de/​d​i​e​-​h​e​r​r​s​c​h​e​n​d​e​n​-​i​n​-​d​e​u​t​s​c​h​-​n​o​r​d​o​s​t​-​e​i​n​e​-​k​o​n​f​e​r​e​n​z​-​d​i​s​k​u​t​i​e​r​t​-​a​s​p​e​k​t​e​-​d​e​r​-​k​o​l​o​n​i​a​l​i​s​i​e​r​u​n​g​-​o​s​t​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​ds/.

7 Ver­bün­de wie bei­spiels­wei­se das #Netz­werk­Ost unter­strei­chen dabei, dass zumin­dest bei Tei­len der an die­sen Dis­kus­sio­nen Teil­neh­men­den eine lang­fris­ti­ge Kri­tik an den Ergeb­nis­sen wie auch den Erin­ne­run­gen an 1989 exis­tiert. Sie­he hier­zu : http://​netz​werk​-ost​.org/​n​e​t​z​w​e​r​k​o​s​t​-​e​r​i​n​n​e​r​u​n​g​e​n​-​a​n​-​e​i​n​e​-​r​e​v​o​l​u​t​i​o​n​-​a​u​f​-​e​i​n​-​n​e​u​es/.